Alles über Vorflügel
„Das Ding fliegt ja wie eine schwangere Auster“, rief mal ein Bekannter, als er den abenteuerlichen, aber dennoch stabilen Flugzustand meines Fieseler Storchs beobachtete. Tatsächlich hing das Modell mit nahezu 20 Grad Anstellwinkel in der Luft und flog seelenruhig vor sich hin. Alles mit Absicht. Alles im grünen Bereich.Doch wie ist das möglich? Die weitaus meisten Profile lassen sich lediglich bis maximal 10 Grad anstellen, bevor es zum Strömungsabriss kommt. Einige liegen sogar noch deutlich darunter. Wie kann dann ein Modell mit nahezu 20 Grad noch stabil in der Luft bleiben?
Strömungsverhältnisse
Um das zu verstehen, muss man sich den Zustand bei maximaler Strömung ganz kurz vor dem gefürchteten Strömungsabriss näher ansehen. Je höher der Anströmwinkel ist – der wiederum mit dem Anstellwinkel steigt – umso mehr verlagert sich der Staupunkt von der Profilnase hin zur Unterseite des Profils – wie in Abbildung 1 dargestellt.
Ab einem kritischen Winkel vermag es die Strömung dann nicht mehr, die Nasenleiste mit ausreichender Geschwindigkeit zu umströmen. Die Folge ist, dass sich die Strömung sofort vom Konturverlauf löst. In einer solchen Situation kann das Profil keinen Auftrieb mehr erzeugen. Es besitzt nur noch einen Strömungswiderstand. Das Flugzeug stürzt ab. Dabei hilft auch der klassische Trick, nämlich einen Turbulator einzusetzen, nicht mehr. Besonders stark tritt dieses Problem bei dicken Profilen mit großem Nasenradius auf, da die Geometrie hierbei besonders voluminös ausgebildet ist; siehe Abbildung 2.
Abhilfe
In den frühen 1930er-Jahren kam man durch die Untersuchung der besonderen Strömungsverhältnisse auf eine einfache, aber, wie sich herausstellen sollte, extrem wirksame Idee. Diese ergab sich, nachdem man bei Hochgeschwindigkeitsaufnahmen von Tauben in einem Windkanal eine kleine Feder entdeckte, die die Vögel an der Vorderseite der Flügel ausklappen, wenn diese situationsbedingt stark angestellt sind. Wenn es der Strömung bei einem hohen Anströmwinkel nicht gelingt, den Nasenradius zu überwinden, so gibt man ihr die Möglichkeit, eine Abkürzung hin zur Oberseite zu nehmen. Dazu fügt man eine Lücke im Profilverlauf genau an der Stelle ein, an der beim kritischen Anströmwinkel der Staupunkt zu erwarten ist – siehe Abbildung 3.
Der Effekt ist durchschlagend. Eine Strömung, die eigentlich schon lange abgelöst sein sollte, bleibt dennoch anliegen und das Profil trägt weiter. Das ist gerade im Landeanflug ein extremer Vorteil: Durch den Gleitwinkel und den hohen Anstellwinkel behält man viel Auftrieb bei niedriger Geschwindigkeit und kann sehr dicht am Abriss-Zustand fliegen. Diese Methode setzte sich zwar wenig durch, jedoch wurden immer wieder Muster mit einem solchen System ausgestattet. Die berühmtesten Vertreter sind der Fieseler Storch (Fi-156), die Tiger-Moth, die PZL-104 Wilga und die Messerschmitt BF-109. Bei diesen Mustern war erforderlich, auch auf schlechten und oft sehr kurzen Landebahnen sicher aufzusetzen. Der Fieseler Storch – in Abbildung 4 gezeigt – stellt dabei sicher das extremste Beispiel dar.
Hat man das Vergnügen, eines der wenigen noch heute fliegenden Originale beim Landen zuzusehen, mag man es kaum glauben, in welch steilem Winkel und mit welch geringer Geschwindigkeit das Flugzeug aufsetzt. Die dabei ungewöhnlich hohe Vertikalgeschwindigkeit wird durch den extremen Federweg des Fahrgestells kompensiert, der dem Muster seinen Spitznamen verliehen hat. Der Fieseler Storch erreichte durch die Möglichkeit des überkritischen Anstellwinkels eine Kurzstart- und Landeeigenschaft, die es ihm trotz der recht hohen Abflugmasse von etwa einer Tonne erlaubte, auf Sportplätzen oder freien Stadtflächen zu landen.
Beute
Im Zweiten Weltkrieg waren die sagenhaften Flugeigenschaften des Storchs eine von den Alliierten mit Interesse verfolgte Tatsache. Bevor schließlich ein Fieseler Storch von den Engländern erbeutet wurde und man sich bei Testflügen an Kurzlandungen wagte, herrschte großer Respekt vor den Storch-Piloten. Offensichtlich waren sie in der Lage, ein Flugzeug so dicht und dennoch zuverlässig mit kritischem Anstellwinkel fliegen zu können.
Ein englischer Testpilot beschrieb seine erste Kurzlandung mit einem erbeuteten Storch so, dass man lediglich den Steuerknüppel bis zum Bauch ziehen und warten musste, bis das Flugzeug am Boden war. Von großer fliegerischer Kunst war da nicht viel zu sehen.
Der Preis des Erfolgs
Wie schon oft in der Geschichte der Technik, erkauft man sich einen Vorteil mit einem Nachteil. Auch bei den Vorflügeln ist das nicht anders. Eine Tragfläche mit angesetzten Vorflügeln – siehe Abbildung 5 – hat gleichsam einen eingebauten Turbulator direkt an der Nasenleiste.
Das ist ärgerlich, denn man verschenkt einen großen Teil der laminaren und damit widerstandsarmen Anlauffläche. Doch Abhilfe liefert eine weitere, im Grunde ebenso naheliegende Idee. Man kann die Vorflügel in den Profilverlauf einfahren. Somit hindern sie den Strömungsverlauf nicht, wenn sie gar nicht benötigt werden. Im Fall einer Landung hingegen ist ein erhöhter Widerstand unkritisch, ja sogar gewünscht, um schnell Höhe abzubauen.
So wurden sowohl bei der Tiger-Moth als auch bei der BF-109 die Vorflügel einfahrbar konstruiert. Gerade bei der BF-109 gab es mit der Mechanik jedoch Probleme. Der Pilot hatte auf das Ausfahren der Vorflügel keinen Einfluss. Sie fuhren unter einer gewissen Mindestgeschwindigkeit automatisch aus. Offensichtlich traute man den Piloten die Bedienung einer zusätzlichen Funktion während der Landung nicht zu oder man befürchtete Fehlbedienungen bei hohen Geschwindigkeiten. Das Problem mit dieser Strategie war nun, dass es öfter vorkam, dass die Vorflügel nur auf einer Seite ausfuhren, auf der anderen hingegen nicht. War der Pilot nicht gewarnt, konnte die Tragfläche ohne Vorflügel unvermittelt in den Abrissbereich geraten und das Flugzeug kippte zur Seite. Im Landeanflug bedeutete das in der Regel einen tödlichen Absturz.
Dennoch haben sich in einigen Bereichen einfahrbare Vorflügel durchgesetzt. Heute kommt kein Verkehrsflugzeug mehr ohne sie aus – siehe Abbildung 6. Die Erklärung ist einfach. Maschinen, die in der Lage sind, steil zu steigen – ohne dabei die Sicherheit aus den Augen zu verlieren – erreichen wegen der geringeren Lärmbelastung günstigere Landegebühren.
Im Großen wie im Kleinen
Nun stellt sich die Frage, ob sich die Idee des Vorflügels auch im Modellflug umsetzen lässt. Einige Modelle, allen voran natürlich solche, die den Fieseler Storch als Vorbild haben, verwenden wie das Original starre Vorflügelsysteme. Die erreichbaren Effekte sind selbst im sehr kleinen Maßstab erstaunlich. Tatsächlich beobachtet man ganz ähnliche Landeeigenschaften am Modell, wie sie auch beim Original zu sehen waren. Das ist sowohl für die Piloten als auch für die Zuschauer gewöhnungsbedürftig. Mehr als einmal rief mir schon ein versierter Beobachter zu, dass ich achtgeben solle, dass das Modell nicht aus der Luft fällt. Es ist erstaunlich, welche Anstellwinkel in der Praxis erreichbar sind – siehe Abbildung 7.
Besonders ratsam sind Vorflügel, wenn extrem geringe Geschwindigkeiten in Verbindung mit hohen Motorleistungen und damit höheren Abflugmassen gefordert sind. Das findet man vor allem beim Flugzeugschlepp mit leichten und damit langsamen Seglern. Und tatsächlich finden sich bei einigen Schlepp-Maschinen schon alleine aus funktionalen Gründen bisweilen Vorflügel.
Der Teufel steckt im Detail
Auch wenn Vorflügel bei Modellen ähnlich gut funktionieren wie bei den Originalen, so ist es nicht damit getan, einfach ein Brettchen vor die Tragfläche zu kleben. Auch wenn die Hoffnung groß ist, dass sie wie ein Vorflügel wirken werden. Damit die Strömung nach dem Austritt aus dem Vorflügelspalt tatsächlich weiter am eigentlichen Profil anliegen bleibt, muss sie beschleunigt werden. Dazu ist die Form des Spalts zwischen Vorflügel und eigentlichem Profil von großer Bedeutung. Wichtig ist, dass sich der Spalt zur Oberseite hin verjüngt, wie in Abbildung 8 gezeigt.
Da die Luft beim Durchströmen dieses Spalts nun nicht zur Seite entweichen kann, muss sie den enger werdenden Spalt schneller durchströmen. Diese Beschleunigung trägt selbst auch noch zum höheren Tragen der Fläche bei – vergleiche dazu Abbildung 9.
Zweckdienlich
Vorflügel sind auch bei Flugmodellen kein bloßes Detail, das zu einem Scale-Modell dazugehört. Sie erfüllen ihren Zweck auch im Kleinen. Die Flugeigenschaften verändern sich bis hin zu einer extremen Abriss-Stabilität. Kurzlandungen sind dabei ebenso möglich wie generell geringe Fluggeschwindigkeiten wegen des hohen Auftriebs. Die Folge solch hoher Anstellwinkel ist jedoch ein etwas merkwürdiges Flugbild, das allerdings auch bei den Originalen zu finden ist.
Leider erzeugt ein Vorflügel im normalen Flugzustand einen merklichen Widerstand, solange er nicht durch eine teils komplexe Mechanik einfahrbar gestaltet wird. Solche Funktionen lassen sich aber meist nur bei recht großen Modellen verwirklichen.